Meine Mutter trinkt

„Meine Mutter trinkt. Alles begann für mich und meinen Zwillingsbruder, als wir in der Grundschule waren; nur wussten wir damals noch nicht, dass Mamas Verhalten mit dem Alkohol zusammen hing. Sie war zu der Zeit schon oft sehr nervös, aggressiv, schlug zu, zertrümmerte Holzbügel und Holzlöffel auf unserem kleinen Popo und war oft überaus abweisend und sehr gereizt.

Als wir dann 10 Jahre alt waren, merkte mein Bruder, dass immer wieder Alkohol fehlte, obwohl wir gar keinen Besuch hatten. Der Alkohol stand regalweise im Keller. So markierten wir alle Flaschen und jedes Mal, wenn Mama mal wieder so unausstehlich war, kontrollierten wir die Flaschen. Das Ergebnis kann sich jeder denken.

Während mein Zwillingsbruder der Diplomat war, fast immer alles sofort so machte, wie Mama es wollte und lieber seinen Mund hielt, ging ich nie den unteren Weg. Was ich alles erlitt, kann man sich kaum vorstellen. Hier nur die Spitze des riesigen Eisberges: permanente Schläge und auch Tritte in den Bauch, mein Kopf „flog“ oft gegen die Wand oder gegen eine der eisernen Rippenheizungen. Ging ich Mama zu langsam die Treppe hinunter, schubste sie mich von hinten, sodass ich hinunterflog. Die Büschel an Haaren, die sie mir ausriss, konnte ich nicht mehr zählen, ich steckte kopfüber in einer vollen Regentonne, aus der ich ohne meinen Zwillingsbruder nicht mehr herausgekommen wäre. Mama warf mit einem großen Messer nach mir, das nur einen Zentimeter neben mir im Eichenschrank stecken blieb. Ich wurde mit der Hundeleine oder mit den Händen gewürgt und anderes mehr. Nichts konnte ich meiner Mutter recht machen. Kamen wir aus der Schule, war das Haus noch nicht geputzt, es gab kein Mittagessen und Mama lag besoffen, z.T. auch in ihrem Erbrochenen im Flur, auf dem Sofa oder oben in ihrem Bett. So manches Mal hatte sie ALLES aus meinen Schränken und Schubladen ausgeräumt und auf den Boden geworfen. Ich hatte dann 1 Stunde Zeit, um das Zimmer perfekt wieder in Ordnung zu bringen. Das war nicht zu schaffen; also gab es wieder Schläge und Tritte. War auch nur eine Schublade nicht so eingeräumt, wie Mama es wollte, wurden erneut ALLE Schränke und Schösser von ihr ausgeräumt. An solchen und anderen Tagen blieb mir das Herz stehen. Es wurde so schwer, dass ich schon Schmerzen verspürte. Nachts konnte ich immer schlechter schlafen; nicht zuletzt auch deshalb, weil Mama mir androhte, mich umzubringen. Ich weinte und bat den lieben Gott, mich zu ihm zu holen.

In der Schule, inzwischen auf dem Gymnasium, wurde ich immer schlechter und musste die Klasse 7 wiederholen. Die Lehrer wussten natürlich von nichts und ich musste mir oft demütigende Kommentare bezüglich meiner Leistungen von ihnen anhören. Ich bekam eine stink Wut auf sie und auf alle, die mich je kritisierten. Später musste ich auch noch die Jahrgangsstufe 11 wiederholen, weil ich so rein gar nicht mehr klar kam mit dem, was zu Hause immer und immer schlimmer wurde und den Leistungen, die die Schule verlangte. Ich wechselte das Gymnasium und nun ging ich leistungsmäßig ab wie eine Rakete. Das Abitur zu schaffen, war gar keine Frage mehr; ich war also ein absolute Spätzünderin. Mit meinem Abitur hätte ich in Bonn Medizin studieren können, aber das wollte mein Vater nicht. 

Das einzige, worüber ich mich all die vielen Jahre rettete, war der Leistungssport in Leichtathletik. Bis zur Deutschen Meisterschaft hatte ich es gebracht. In der Schule war ich die beste Sportlerin und wurde von den Schülern schon fast bewundert. Stand ich in der Zeitung, kamen sie gleich an und zeigten mir den Artikel. Aber Lob von meinen Eltern bekam ich NIE. Papa sagte immer nur: „Mit dem Sport kannst du dir kein Butterbrot schmieren. Lern´ lieber, damit aus dir etwas Gescheites wird.“ Und Mama sagte oft: „Die (gemeint war ich) hat doch eh nur einen Kopf zum Haareschneiden. Die ist so blöd wie Schifferscheiße.“ Sie sagte auch öfter die Sätze: „Ich bereue es, dich je geboren zu haben. Währest du doch besser weg geblieben.“ Als der Sportverein Köln mich abwerben wollte und anbot, ins Sportinternat zu können, untersagten mir das meine Eltern. Gleiches geschah, als mich der Sportverein Bochum-Wattenscheid abwerben wollte, der, wie Köln, schon viele Olympiasieger hatte.

Tanzen war auch eine meiner großen Leidenschaften. Doch auch hier dasselbe Ergebnis: Als ich Formationstänzerin werden sollte, untersagten das meine Eltern. Lobten mich Dritte, wenn sie mich tanzen sahen, hatten meinen Eltern dafür nur ein müdes Lächeln übrig und demütigten mich vor den anderen: „Ja, die Beine schwingen, das kann sie. Aber wie die (gemeint war wieder ich) in der Schule ist, darüber wollen wir mal besser nicht reden.“

Ich spielte auch sehr erfolgreich Handball und war in der Niederrheinauswahl. D.h., ich gehörte zu den besten Spielerinnen des ganzen Niederrheins. Das ist durchaus ein Sprungbrett in die Handball-Bundesliga, aber auch daraus wurde natürlich nichts. Wer hatte das wohl verhindert?

Als ich mein Buch schrieb bekam ich auch dafür keinerlei Lob. Ich veröffentlichte in Fachzeitschriften im In- und Ausland, wurde im Radio interviewt, doch von meinen Eltern kam kein Kommentar.

Gerettet hatten mich neben meinem Zwillingsbruder auch meine Großeltern mütterlicherseits. Sie wohnten 150 Meter entfernt, sodass ich fast jeden Nachmittag bei ihnen war und das schon seit dem Kindergarten. Ihre Liebe war so wohltuend. Bei ihnen konnte ich mich auch immer ausheulen, wenn Mama mich mal wieder verprügelt, oder anderes mit mir angestellt hatte. Sie sprachen natürlich mit meinen Eltern, aber geholfen hatte das letztendlich nichts. Oma weinte sich die Augen aus dem Kopf und beide Großeltern überschüttete mich mit ihrer Liebe – SCHÖÖÖÖN!!!

Papa half uns Kindern gar nicht. Er machte Karriere und verdiente sehr viel Geld, sodass uns Kindern jeder Wunsch erfüllt wurde. Nach außen waren wir die Vorzeigefamilie: ein Vater mit viel Macht und Einfluss, viel Geld, gebildete, sehr wohlerzogene Kinder (ja, das waren wir wirklich), die sich „auf jedem Parkett bewegen konnten“, ein dickes Auto, usw. Aber geholfen hatte er uns nie. Im Gegenteil: Mir gab er die Schuld an Mamas Alkoholsucht. Würde ich mich zu Hause anders benehmen, nicht immer Widerworte geben und wäre ich in der Schule besser, dann hätte Mama gar keinen Grund zu trinken. Dafür hatte ich meinen Vater gehasst.

Trotz allem Grauen schaffte ich mein Abitur und wie geplant, machte ich zuerst eine Ausbildung und studierte anschließend. Heute verdiene ich selber gutes Geld.“