Mein Schwiegervater ist ein Herrscher

„Mein Schwiegervater war und ist unerträglich: Er befehligt alle und jeden, worum auch immer es geht. Selbst vor meiner Schwiegermutter macht er dabei keinen Halt. Sie ist z.B. diejenige, die ihm das Essen pünktlich auf den Tisch zu stellen hat. Fehlt etwas, fragt er sie, ob sie zu dumm sei, an alles zu denken. Sie schaut also lieber noch dreimal hin, ob auch wirklich alles so vorbereitet ist, wie er es gerne mag. Wird mit der ganzen Familie gemeinsam gegessen, gibt es eine feste Sitzordnung. Er sitzt vor Kopf, Schwiegermutter links und alle anderen haben sich ihrem Alter gemäß hinzusetzen. Mein Schwiegervater bekommt grundsätzlich zuerst das Fleisch, Gemüse, die Kartoffeln. Erlaubt sich jemand, in der Zwischenzeit selber eine andere Schüssel zu nehmen, die mein Schwiegervater noch nicht in der Hand hatte, erhält er einen deutlich maßregelnden Blick. Die Schüssel sollte man nun sofort wieder zurückstellen, möchte man einen anordnenden Kommentar vermeiden. Auch das Reden bei Tisch ist strikt verboten. Perfekte Tischmanieren sind selbstverständlich. Als unsere Kinder noch klein waren, wurden sie so manches Mal in die Küche geschickt, um dort alleine weiter zu essen; mein Schwiegervater konnte es nicht ertragen, ansehen zu müssen, wie unfertig sie mit Löffel, Messer und Gabel umgehen konnten. Da spielte das Alter für ihn keine Rolle.

Klingelt es an der Haustüre, darf meine Schwiegermutter diese nicht öffnen, wenn er zu Hause ist. Gleiches betrifft auch das Telefon. Der erste Kontakt erfolgt, sofern möglich, grundsätzlich und nur über ihn.

Er meint, alles beurteilen zu können und wer seine Meinung in Frage stellt, wird mit süffisanter Arroganz für dumm erklärt oder als unwissend dargestellt. Dabei kann er aber durchaus auch mal laut werden.

Unsere Kinder (7 und 10 Jahre alt) haben sich bei Gesprächen unter uns Erwachsenen nicht zu äußern. Wagen sie es sich dennoch, wird ihnen das Wort abgeschnitten. Oder es wird ihnen herablassend deutlich gemacht, dass ihre Meinung überhaupt keine Bedeutung hat, weil es ihnen noch an Klugheit mangelt.

Wer es evtl. doch einmal schafft, ihm zu gefallen, worum auch immer es dabei geht, erhält ein leichtes Lächeln, aber sein Blick bleibt dennoch musternd. Man kann sich also nie so wirklich sicher sein, ob er zufrieden ist.

Lob kennt er nicht. Er ist der Meinung: „Wenn ich nichts sage, ist das Lob genug.“ Und Lob verdürbe den Charakter - was auch immer er damit meint.

Mit ihm einkaufen zu gehen, habe ich mir abgewöhnt, denn selbst in der Öffentlichkeit behandelt er die Menschen wie Untergebene. Kein nettes Wort, kein Dankeschön, kein Lächeln, einfach nichts. Kann der Verkäufer ihm etwas nicht so gut erklären, dass er das sofort versteht, bezeichnet er ihn als inkompetent oder als Fehlbesetzung. Man kann sich mit ihm wirklich nur schämen.

Jeder orientiert sich nur noch an ihm, vermeidet Diskussionen, schweigt oder denkt sich seinen Teil. Ich komme mir oft vor, als lebten wir in den 50ger Jahren des letzten Jahrhunderts. Meine Schwiegermutter hat sich irgendwie an ihn gewöhnt und sich mit ihm arrangiert. Wie sie das gemacht hat, ist mir völlig unbegreiflich. Wie man ihn überhaupt lieben kann, ist mir unbegreiflich. Er schafft es bei jedem Menschen, derjenige zu sein, der sagt, wo es lang geht und was wie zu erfolgen oder zu tun oder zu entscheiden ist. Seine Ausstrahlung ist bedrückend und mächtig.

Sein Verhalten verkehrt sich aber geradezu ins Gegenteil, wenn z.B. bei meinen Schwiegereltern ein großes Fest gefeiert wird, zu dem Familie, Freunde, Geschäftspartner eingeladen sind; oder, wenn wir selber gemeinsam auf einem Fest sind. Da ist er so dermaßen freundlich, aufmerksam, zuvorkommend, galant, dass einem glatt die Spucke wegbleibt. Er lacht, lässt andere ausreden, akzeptiert andere Meinungen, verteilt Komplimente,  ist charmant, tanzt schwungvoll mit meiner Schwiegermutter und hat ein Dauergrinsen im Gesicht. Manchmal ertappe ich mich dann bei einem Lächeln, was mich im nächsten Moment total erschreckt. Selbst zu uns und seinen Enkelkindern ist er die Liebe in Person. Als würde da ein ganz anderer Mensch vor uns stehen. Keiner könnte sich vorstellen, dass er zu Hause ein Patriarch ist, der alle nur schikaniert, kritisiert und befehligt.

Aus mehreren Gründen, besuche ich heute meinen Schwiegervater nicht mehr; wobei es mir um meine Schwiegermutter leid tut, denn sie hat damit nichts zu tun. Aufgrund dessen habe ich ihr meine Entscheidung fernmündlich erklärt. Sie konnte es verstehen, war darüber aber auch sehr traurig.

Ich bin nicht mehr bereit dazu:

‣ meinem Schwiegervater wie ein kleines Kind aufs Wort  zu gehorchen und nur seine Meinung vertreten zu dürfen, um dem Konflikt mit ihm aus dem Wege zu gehen.

‣ mir von ihm über den Mund fahren zu lassen, mich als dumm und unüberlegt darstellen zu lassen, was durchaus auch im Beisein meiner Kinder geschieht.

‣ sein patriarchalisches Verhalten zu dulden. Wir alle sind frei lebende und frei denkende Menschen. Er bestimmt da gar nichts mit.

‣ ihn darüber beurteilen und entscheiden zu lassen, welchen Wert ich habe. 

‣ „Klein bei geben“ zu sollen, weil eine gute Erbschaft lockt. Diesen Druck entziehe ich ihm.

‣ mir von meinem Schwiegervater irgendwelche Vorschriften machen zu lassen, mich demütigen zu lassen, mich auf scheinbare Fehler in der Kindererziehung hinweisen zu lassen. Meine Kinder werden von ihm nie mehr gedemütigt, egal wie alt sie sind.

Was mein Mann macht, das muss er selber entscheiden. Da er mit diesem Vater groß und beruflich erfolgreich geworden ist, verstehe ich durchaus, dass er sich aus dieser Verbindung nur schwer lösen kann, erfuhr er doch Jahrzehnte die entsprechende „Gehirnwäsche“. Und mein Mann weiß auch, dass er in mir eine gleichfalls starke Frau geheiratet hat. Wie er mit meiner Distanz zu seinem Vater klar kommt, muss er für sich klären; wir hatten oft genug darüber gesprochen. Und meine Kinder wollen ihren Großvater streng genommen auch nicht mehr sehen. Das einzig Schöne, das sie mit ihm verbinden, sind die großzügigen Geschenke zum Geburtstag, zu Ostern und Weihnachten. Ansonsten haben sie von ihm noch nie wahre Liebe bekommen, sondern Disziplinierungen. Meine Schwiegereltern hatten unsere Kinder noch nie mit in den Urlaub genommen. Sie waren noch nicht einmal mit ihnen in einem Freizeitpark, im Schwimmbad, im Zoo oder sonst wo. Dass meine Schwiegermutter dies alles gerne gemacht hätte, glaube ich ihr aufs Wort, denn sie ist der Engel in der Beziehung meiner Schwiegereltern. Und auch unsere Kinder leiden darunter, Oma nicht mehr sehen zu können. Aufgrund dessen fährt seit geraumer Zeit mein Mann mit beiden Kindern zu den Schwiegereltern, weil ich meinen Kindern die Oma nicht vorenthalten möchte, nur weil ich mit ihrem Opa nicht klar komme.

Mein Mann muss sich entscheiden. Entweder er setzt sich seinem Vater gegenüber endlich durch und sorgt dafür, dass unsere Familie mit Respekt und Wertschätzung behandelt wird, oder er zieht seinen Vater unserer Familie vor. Dann aber wäre ich bereit, Konsequenzen zu ziehen, denn mein Leben und das meiner Kinder werden von mir und von ihnen selbst bestimmt. Da mischt sich kein Schwiegervater mehr ein.“