Mein Papa ist nie da

„Ich heiße Jonathan, bin 12 Jahre alt und habe eine ältere Schwester, Sophia, 15 Jahre alt.

Mama ist zu Hause. Sie kümmert sich um uns, den Haushalt, die Schule und alles andere. Papa ist oft und sehr lange weg auf Montage. Zum Teil ist er sogar drei und vier Monate nicht zu Hause. Mal ist er in Deutschland, dann kommt er spätestens so alle zwei bis drei Wochen wieder zurück. Aber er ist auch mal in Kroatien, Russland; sogar in China und Japan war er schon. Und dann sehen wir ihn sehr, sehr lange nicht mehr. Kontakt haben wir mit Papa über das Telefon, Facebook, wir schreiben uns E-Mails oder skypen. Ist er nur ein paar hundert Kilometer entfernt, kommt er zwischendurch auch mal über das Wochenende zu uns. Zwischen den einzelnen Montageeinsätzen liegen maximal zwei Wochen, dann ist er schon wieder weg.

Wenn er dann aber mal wieder da ist, geht er oft stundenlang Angeln. Er sagt immer, er braucht das zur Entspannung. Papa ist also zu Hause und doch nicht da. Mich stört das sehr, denn ich will auch mal mit Papa was alleine machen, so unter „Männern“. Angeln? Das ist nichts für mich. Was ist langweiliger als angeln? Zugucken.

Ständig bin ich mit den zwei manchmal richtig blöden Frauen, also meiner Mama und Sophia, zusammen, selbst wenn Papa da ist. Die quatschen miteinander, gehen shoppen, was mich so gar nicht interessiert, schauen sich langweilige Kochsendungen, Modesendungen und Soaps im Fernsehen an oder nähen sich irgendwelche Klamotten. Echt blöd!

O.k., Mama kümmert sich natürlich auch um mich. Wenn ich Sorgen habe oder es in der Schule mal nicht so richtig läuft, oder wenn ich krank bin, dann ist sie für mich da. Sie kommt auch am Wochenende mit zu meinen Fußballspielen. Das findet dann meine Schwester wieder doof. Und wir drei gehen auch mal ein dickes Eis essen, ins Kino, Freibad, kraxeln die Berge rauf, rodeln und laufen Ski. Und ja, wenn ich mal nicht weiter weiß, dann kann ich mit Mama richtig gut reden. Sie hört zu, nimmt mich in den Arm und hat mich lieb. Und trösten oder Mut machen, das kann sie auch echt klasse.

Aber Papa ist einfach nie, nie, nie da, wenn ich ihn brauche. Gut, Papa verdient richtig viel Geld und uns fehlt es an gar nichts. Das Taschengeld ist super. Was wir zum Geburtstag, zu Weihnachten und so zwischendurch noch alles bekommen, ist echt viel. Aber ich brauche meinen Papa!

Ich will einfach alles mit ihm machen, was halt Jungs mit ihren Vätern so machen. Fußball spielen, Drachen steigen lassen, unsere beiden Autos waschen oder reparieren, miteinander rangeln, sich mal kräftemäßig messen, eine Seifenkiste bauen und was auch sonst noch alles so möglich ist. Ich möchte einfach, dass er nicht nur im Urlaub da ist und dann viel mit uns spielt, sondern jeden Tag. Ich habe keine Lust darauf, ihn in der wenigen Zeit, die er überhaupt mal zu Hause ist, auch noch mit Mama und Sophia teilen zu müssen. Die beiden nehmen Papa eh permanent in Beschlag. Mama redet stundenlang mit Papa, weil sie ja auch noch vieles miteinander zu klären und abzusprechen haben für die Zeit, in der er mal wieder weg ist. Sie sind dann auch abends oft weg, gehen alleine Spazieren, ins Kino, besuchen Freunde oder die sind bei uns. Sophia und ich übernachten dann auch mal bei unseren Großeltern. Na, das ist ja für die beiden ganz große Klasse, aber für mich gar nicht. Papa ist endlich da und ich darf bei den Großeltern übernachten. Und Sophia nützt mir auch nichts. Sie umgarnt Papa ständig mit ihrem Scharm. Das findet Papa natürlich toll. Die beiden lachen viel, albern herum und reden, reden, reden. Sie zeigt ihm, was sie neues geschneidert hat, welchen Star sie total gut findet, auf welchem Konzert sie gemeinsam mit Mama war – da darf ich dann nämlich zu Hause bleiben, weil ich noch zu jung bin. Wenn Papa und Sophia miteinander etwas unternehmen und mich fragen, ob ich mitgehen möchte, lehne ich das ab. Da geht es sowieso nur um Sophia und ihre Wünsche. Das kenne ich schon. Blöd!

Die Rad- und Bergtouren mit der ganzen Familie, die gemeinsamen Ausflüge ins Schwimmbad und so, das ist zwar echt schön, aber reicht mir einfach nicht. Ich will meinen Papa ganz für mich alleine haben und ganz viel mit ihm machen und zwar nur mit ihm. Und Sophia soll endlich mal damit aufhören, sich ständig in den Vordergrund zu schieben, egal was wir machen. Blöde Kuh!

Mama wusste von meinem Problem und wir hatten auch schon öfter darüber geredet. Sie versuchte, mir diese Gefühle zu nehmen, aber ich fühlte mich trotzdem zurückgesetzt. Ich konnte mich nicht so behaupten,  wie Sophie, um zu meinem Recht zu kommen.“