Der Tod meiner Mutter

„Mama kam wegen ihrer starken Inkontinenz ins Krankenhaus. Dort wurde ihr operativ die Blase gehoben. Doch entgegen aller Zusagen, dass anschließend alles wieder in Ordnung sei, war gar nichts in Ordnung. Ihre große Hoffnung, die man ihr gemacht hatte, war zerschlagen. Tief deprimiert wurde sie entlassen. Am selben Tag telefonierte ich mit ihr, ohne zu wissen, dass das unser letztes Telefonat sein wird. Hätte mir damals jemand gesagt, dass meine Mutter in drei Tage tot sein wird, ich hätte ihn für verrückt erklärt. Sie stand mitten im Leben und nichts, aber auch gar nichts deutete auf dieses Schicksal hin. Ich erkundigte mich also nach ihrem Wohlergehen und hörte sogleich, wie unzufrieden sie war. Nach ihren Medikamenten gefragt, und dass sie diese bitte auch regelmäßig einnehmen muss, wurde sie sehr abweisend. Ich sollte mich da heraushalten, sie wisse das selber und ich sollte sie nicht behandeln wie ein kleines Kind. Unser Gespräch war schnell beendet und mal wieder hatte sie mich in meiner Sorge um sie völlig missverstanden. Das kannte ich bereits. Mit ihrer sich zunehmend verschlechternden Inkontinenz wurde sie nämlich immer mürrischer, deprimierter mutloser und wurde abweisend, wenn ich sie darauf ansprach.

Zwei Tage nach ihrer Entlassung wurde Papa nachts gegen 3:00 Uhr wach. Mama lag nicht in ihrem Bett. So stand er dann auf, um nach ihr zu sehen. Er fand sie am Esstisch sitzend. Sie saß dort regungslos, mit starrem Blick, leicht geöffnetem Mund und einem leicht nach vorne geneigtem Kopf. Die Taufdecke, die sie für ihren Urenkel anfertigte, der drei Wochen zuvor geboren war, lag auf ihrem Schoß, der Speichel floss seitlich aus ihrem Mund und tropfte auf die Decke.  Sie war nicht mehr ansprechbar. Erst als Papa sie lauter ansprach und schüttelte, kam sie zu sich. Sie sah ihn an, konnte auf seine Fragen kaum antworten und ihm war sogleich bewusst, dass jetzt ein Arzt gebraucht wurde. Der Krankenwagen kam und die Ärztin diagnostizierte einen leichten Schlaganfall.

Früh morgens so gegen 5.00 Uhr klingelte bei mir das Telefon. Papa erzählte mir, was geschehen war. Er selbst fuhr ins Krankenhaus und bat mich zu ihm nach Hause zu kommen, um auf die Hunde aufpassen zu können (zwei ganz liebe, süße Zwergschnauzer). Ungewaschen fuhr ich sofort los und war ca. 50 Minuten später beim elterlichen Haus, während Papa schon weg war. Am späteren Morgen kam er zurück und ich erfuhr, dass sich der erste Schlaganfall wiederholt hatte, kurz nachdem Mama im Krankenhaus angekommen war. Ihre Sprache war beeinflusst. Sie konnte zwar noch sprechen, aber vieles musste sich Papa zusammenreimen. Wir aßen zu Mittag, Papa legte sich für eine Stunde hin und fuhr dann wieder zurück ins Krankenhaus. Abends erfuhr ich, dass Mama einen dritten Schlaganfall bekommen hatte, der sie rechtsseitig lähmte. Zudem konnte sie inzwischen fast nur noch Laute von sich geben, kaum aber ein Wort oder gar Sätze sprechen. Er bat mich, nach Hause zu fahren, während er der Familie den neuesten Stand mitteilte.

Am nächsten Morgen rief Papa, schon fast froh gelaunt, an. Mama ging es deutlich besser. Die Ärzte sprachen von einem Wunder, denn Mama konnte den rechten Arm mit viel Kraft leicht anheben und die Hand etwas bewegen. Die Sprache war zwar weg, aber das, was sie noch äußern konnte, sei ein gutes Zeichen dafür, dass auch diese wiederkommen kann. Zudem lag sie auch nicht mehr auf der Intensivstation. Ich traute meinen Ohren nicht. Ich lächelte und dachte bei mir: „Das ist Mama. Keine Hürde kann so hoch sein, dass sie die nicht überspringt.“ Doch abends kam der Rückschlag. Mama lag erneut auf der Intensivstation. Es sah gar nicht gut aus, es war aber immer noch nicht hoffnungslos.

Ich wollte am nächsten Morgen unbedingt zu ihr, doch durch Corona benötigte ich einen besonderen Test, um das Krankenhaus betreten zu dürfen. Um diesen kümmerte sich meine Apothekerin, die unsere Familie seit Jahrzehnten kannte. Sie organisierte mir einen Arzttermin und ich stand, wie mit der Familie abgesprochen, pünktlich um 13:00 Uhr vor dem Eingang des Krankenhauses.

Meine Hoffnung wurde kurz darauf je zerstört. Der Chefarzt sagte, Mama spräche auf die Medikation nicht mehr an und sie habe gerade eben noch einmal die beste Medizin bekommen. Wenn ihr Körper innerhalb der nächsten zwei Stunden nicht reagiert, müssten wir mit ihrem Tot rechnen. Ihr Zustand hatte sich dermaßen verschlechtert, dass Mama die Sprache nicht mehr zurückerlangen würde und ihr Bett nie mehr wird verlassen können.

Meine Eltern hatte eine Art Testament abgeschlossen, in dem vereinbart war, auf lebensverlängernde Maßnahmen zu verzichten, wenn ein Zustand eintritt, in dem Mama jetzt war. So setzten die Ärzte nach zwei Stunden, in denen sich nichts mehr an ihrer Gesundung positiv verändert hatte, die Medikation langsam herunter. Ich fragte den Arzt, wie lange sie jetzt noch bei uns sein wird und ob sie einen Erstickungstot haben würde. Er beruhigte mich. Nein, sie würde nicht ersticken, sondern schlafen, während die Organe immer schwächer werden. Das ganze kann zw. zwei bis 24 Stunden dauern. Mama blieben ab diesem Zeitpunkt noch 10 Stunden.

Als die Krankenschwester mich nach dem Gespräch mit dem Chefarzt an ihr Bett führte, erschrak ich sehr. Ich erkannte sie nicht mehr wieder. Sie sah aus wie ein Mann, aber nicht wie meine Mutter. Die Krankenschwester gefragt, ob sie sich mit der Person im Bett nicht vertan hätte, schüttelte nur ganz leicht ihren Kopf und sagte leise: „Das ist ihre Mutter.“ Mir liefen die Tränen. In ihrem Gesicht suchte ich nach Anhaltspunkten, die mich davon überzeugten, wirklich vor meiner Mutter zu stehen. Es war ihr Mund. Die Haare legte ich ihr so zurecht, wie sie sie stets frisierte. Ja, es war wirklich Mama.

Sie öffnete ihre Augen und sah mich regungslos an.  Da sie nicht mehr sprechen konnte, erzählte ich ihr von dem, was geschehen war und sie gerade eben eine ganz tolle Medizin bekommen hatte. Ich ließ sie in der Hoffnung wieder Sprechen und Laufen lernen zu können, und dass sie in ein paar Wochen wieder zu Hause sein wird, denn ich war ja selber noch in der Hoffnung, dass die neuen Medikamente jetzt wirken werden.  Dass es ihre aller letzte Chance war, erzählte ich nicht. Als ich ihr von ihren beiden Hunden berichtete, lächelte sie leicht. Über den Händedruck vereinbarten wir die Worte Ja und Nein. Für Ja sollte sie meine Hand zweimal drücken, für Nein einmal. Das klappte sehr gut. Sie wollte mir etwas sagen, aber ich verstand kein Wort mehr. Für mich klang das wie Kauderwelsch. Unser „Gespräch“ dauerte so ca. 20 Minuten, bis sie ihre Augen schloss und schlief. Ich musste, auch wegen Corona, nun gehen. Noch auf dem Parkplatz stehend rief ich vom Auto aus  meine Cousine in Bayern an und berichtete ihr unter vielen Tränen, worauf wir alle noch heute gefasst sein müssen. Nach ca. 1,5 Stunden beendeten wir das Gespräch. Zuvor sagte sie, ich solle es doch noch einmal versuchen, jetzt zu ihr ans Bett zu kommen, um mich von ihr zu verabschieden, denn mir war durch das Gespräch und die medizinischen Kenntnisse meiner Cousine klar geworden:  Mama stirbt. So ging ich zurück und durfte tatsächlich an ihr Bett. Kurz darauf kam ein Arzt, sagte, dass nun die Medikation heruntergefahren wird und damit ihr Ableben eingeleitet ist. Papa, der inzwischen schon zu Hause war, kam zurück.

Wir beide saßen schweigend an ihrem Bett. Ihr Mund war leicht geöffnet und wir hörten sie röcheln. Ab und zu kam eine Krankenschwester ins Zimmer, um ihr den Schleim abzusaugen und ihr die Mundhöhle zu befeuchten. Wir konnten zusehen, wie ihr Gesicht immer älter wurde. Als sie gestorben war, sah sie aus wie 100, nicht aber wie 83. Ihr Gesicht hatte sich so sehr verändert, dass keiner mehr sie wiedererkannt hätte. Schrecklich!

Sie schlief. Dafür sorgten die Medikamente. Doch fast genau eine Stunde, bevor Mama starb, riss sie ihre Augen weit auf und ihr Oberkörper bäumte sich etwas hoch. Es sah aus, als würde man sie an ihrem Nachthemd in Brusthöhe hochziehen. Sie nahm einen tiefen Atemzug, starrte diagonal an die Zimmerdecke und blieb eine kurze Zeit lang in dieser Position. Anschließend legte sie sich ganz langsam wieder zurück, während ihre Augen offen blieben. Erschrocken stand ich auf, sprach sie an, hielt mein Gesicht direkt vor ihres, schaute ihr in ihre Augen und bemerkte sofort, dass diese Augen nichts mehr sahen. Sie waren wie tot. Der Glanz war weg. Als wären es Knöpfe, so schien es mir. Ganz, ganz langsam schlossen sich ihre Augenlider. Ich wollte es nicht zulassen, versuchte, die Augenlider aufzuhalten und sagte immer wieder nur: „Mama, bitte bleib. Geh nicht. Bitte. Mama, komm zurück.“ Kurz darauf kam ein Arzt ins Zimmere und teilte uns mit, dass es nicht mehr lange dauern wird. Ich erzählte ihm und der anwesenden Krankenschwester, was ich gerade eben beobachtet hatte. Sie nickten beide. Wahrscheinlich, und nur so kann ich mir das erklären, hatten sie diese Reaktion an den Monitoren ablesen können, die sie außerhalb von Mamas Zimmer beobachteten. Später erfuhr ich, dass etwa eine Stunde vor dem physischen Tod die Seele geht und diese Reaktion, die ich miterlebte, immer wieder ähnlich ist. Da lag also nur noch ihr Körper und die Organe arbeiteten weiter, während ihre Seele bereits gegangen war. 

Nachts gegen 03.15 Uhr warteten Papa und ich auf ihren nächsten Atemzug, doch der kam nicht mehr. Um 03.27 Uhr erfuhren wir vom Arzt, dass Mama tot ist. Dies musste aber noch ein weiterer Arzt bestätigen.

Ich heulte wie ein Schlosshund und konnte mit der Situation nicht umgehen. Vor wenigen Minuten hatte ich noch meine Mutter und jetzt war sie weg – für immer. 58 Jahre hatte ich meine Mutter und nun, einfach so und vor wenigen Tagen noch so völlig undenkbar, war sie für immer gegangen. Das wollte nicht in meinen Kopf.

Ich fühlte mich ohnmächtig und überaus traurig, ja geradezu zerrissen, als wir ihren Schmuck, ihr Geld, Gebiss, ihre Brille und anderes mehr einpackten. Mama wurde bereits zu einem anderen Arzt gebracht, der den Tod bestätigen musste. Papa wirkte äußerlich ganz ruhig. Nun standen wir beide in diesem leeren Raum, hatten jeweils eine Tasche mit Mamas Sachen an der Hand und ich weinte, weinte, weinte. Die Krankenschwester kam noch einmal herein, fragte, ob sie für uns noch etwas tun könnte, umarmte mich liebevoll und wünschte uns viel Kraft. Mit mitleidsvollem Blick verlies sie das Zimmer. Schweigend gingen wir zu unseren Autos und jeder fuhr zu sich nach Hause.“